Die #72 war ein Vinylrausch, der unter erschwerten Bedingungen stand: der öffentliche Nahverkehr hat gestreikt und damit die Anreise für einige erschwert und für viele ganz verhindert. Andere haben ganz besonderen Einsatz gezeigt und sind mehrere Kilometer vom nächsten S-Bahnhof gelaufen, per Taxi gekommen oder haben Berlinale-Filme ausfallen lassen …
Das hat sich für diesen im Grunde perfekten Vinylrausch gelohnt, auch wenn ich selbst zu meiner eigenen Plattenauswahl einige Vorbehalte hatte. Perfekt war er, weil eine Band auf die andere verwiesen hat und weil wir uns in die im Kern auf allen drei Alben vorherrschenden repetitiven musikalischen Schleifen hineinfallen lassen konnten – Turn off your mind, relax and float downstream! Perfekt war er aber auch, weil wir den Kreis dieses Mal voll gemacht, also mit ein und demselben Album begonnen und geendet haben!
Nein Danke – Tocotronic und die Kunst der Verweigerung
Pure Vernunft darf niemals siegen ist das siebte Album der Band und unter neuen Vorzeichen entstanden. Es wurde in Berlin an neun Tagen im Studio eingespielt, zum ersten Mal mit einem zweiten Gitarristen. Man spürt eine besondere Kraft in dieser Konstellation. Die beiden Gitarren feuern einander an, teilen, verdoppeln oder kommentieren die verzerrten Riffs. Das gibt der Musik eine besondere hypnotische Qualität, die auch durch die auf diesem Album erstaunlich variantenreiche Text-Deklamation von Dirk von Lowtzow noch unterstützt wird.
Für mehrere Zuhörer war es die erste Tocotronic-Platte, die sie durchgehört haben. Es gab aber auch Kenner, die die Band seit den Neunzigern begleitet haben. In Diskussion wurde die Haltung hinter manchen der Texte besprochen, die bedeutungsvoll scheinen, aber weder ’authentisch’ sein wollen (Dirk von Lowtzow »haßt nichts so, wie Authentizität …«), noch interpretiert werden sollen („Ich bin kein großer Freund der Interpretation, weil ich finde, damit kommt man nicht weit.“).1 Diese Diskursverweigerung einer Band, die als einer der herausragenden Vertreter der Hamburger Schule zu dessen »Diskurs-Pop« gezählt wurden, hat uns verwundert.
Rettung und Gnade – Hausbesichtigung bei Mark E. Smith
In mehreren Interviews hat Dirk von Lowtzow auf den Einfluss hingewiesen, den The Fall auf die Band ausgeübt hat. Und schon 1996 haben sie Mark E. Smith, dem Mann hinter der Band, mit einem Song die Reverenz erwiesen: Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith.
Auf This Nation’s Saving Grace haben wir den zupackenden Post-Punk Sound der Band hören können. Er lebt von dem Kontrast zwischen einfachen, wiederholten Rhythmus-Pattern, der eigenwilligen Stimme und den nervösen Breaks im Refrain. Das neue Haus, das Mark E. Smith mit seiner Frau Brix Smith gerade erst bezogen hat, wird im Stechschritt durchschritten und von Smith in einem monotonen Monolog beschrieben. Spannend wird das Ganze durch überraschende Modulationen und schrägen Riffs, mit denen die Rhythmusschleifen angefeuert werden.
Der Sound des Albums hat uns nicht umgehauen, die Qualität dieser ungewöhnlichen Musik aber voll überzeugt.
Weniger ist mehr – Die Väter der repetitiven Schleife
Von The Fall führt über deren Musik, und noch deutlicher über den Titel I am Damo Suzuki, eine direkte Verbindung zu Can. Suzuki ist besonders in Pinch, dem ersten Song auf Ege Bamyasi, in seinem Element, man spürt geradezu, wie die Band auf seinen, in sonorer Stimmlage vorgetragenen Gedankenstrom reagieren. Die Stimme ist hier tatsächlich ein gleichberechtigtes Element, das über den statischen und gleichzeitig von individueller Spannung geladenen Rhythmus legt. Das Can mit diesem Album den »trägen und niedergeschlagenen Ton des Post-Rock« vorwegnehmen, wie Piero Scaruffi schreibt, konnten wir im direkten Vergleich mit The Fall deutlich hören.
Mit ihrer musikalischen Mischung und der Intensität einer nicht vom Blues her gedachten Musik sind Can eine absolute Ausnahmeerscheinung. 1972, im Jahr des Erscheinens von Ege Bamyasi hat Peter Przyggoda einen von Zirkuskünstlern begleiteten Auftritt der Band filmen können:
Ein ungewöhnlicher, weil von vorn nach hinten, von Pure Vernunft darf niemals siegenüber This Nations Saving Grace und Ege Bamyasi gehörter Vinylrausch, der dann sogar mit der 9-minütigen Mystery Symphony, der D-Seite von Pure Vernunft, noch zurückgesprungen ist und den Kreis komplett machte. Ein perfekter Vinylrausch, der musikalische Entwicklungslinien deutlich hörbar hörbar werden, und uns tief eintauchen ließ in faszinierend pulsierende Rockmusik.
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1 »Man ist sich der Schrulligkeit der eigenen Aussagen schon bewußt. Dass das alles ein bisschen Nietzsche für Arme ist oder Baudelaire für nicht ganz so Wohlbegüterte« Dirk von Lowtzow in einem Interview zu dem Album.
Ein wunderbares Jubiläum mit drei herrlich lauten Alben – und einem ungemein unterhaltsamen Gast!
1970
Deep Purple – In Rock
In Rock beginnt mit Speed King, einem der ersten Hard Rock Stücke, und hat uns beim VR #75 mit Child In Time die psychedelischen Wurzeln dieses neuen Genres aufgezeigt.
1972
Birth Control – Hoodoo Man
Hoodoo Man hat beim VR #75 mit fettem Orgelsound, straightem Beat und progressiven Wechseln bestätigt, dass das Album eine der wichtigsten deutschen Platten der Siebziger ist.
2020
The Almost Three – It’s Just Music
It’s Just Music wurde uns beim harten VR #75 vom Bandleader Martin Ettrich persönlich vorgestellt: feinster, gitarrengetriebener Blues-Funkrock mit großartigen Songs!
Weltschmerz bei Ambros, ekstatische Lebensfreude bei Bilderbuch und melancholische Verzweiflung bei Culk.
1975
Wolfgang Ambros – Es lebe der Zentralfriedhof
Es lebe der Zentralfriedhof hat den VR #74 mit einer überraschenden Mischung aus Folk-Rock, orchestralem Pop, Walzerzitaten und melancholisch-lebensfrohen Texten eröffnet.
2015
Bilderbuch – Schick Schock
Schick Schock hat uns beim recht düsteren VR #74 mit einer herzerfrischend lässigen Mischung aus Elektrofunk, Hip-Hop und harten Rockriffs und vielen brillanten musikalischen Ideen überzeugt.
2023
Culk – Generation Maximum
Generation Maximum hat beim VR #74 für Diskussionen gesorgt. Eine schonungslose, ernst und düster scheinende Selbstbetrachtung der Generation Z voller brodelnder Energie.
Ein intensiver Vinylrausch mit männlichen Blicken aus weiblicher Perspektive und rumpelnden Klängen von zwei eigenwilligen Stimmen.
1975
Joni Mitchell – The Hissing of Summer Lawns
The Hissing of Summer Lawns ist ein reiches Werk, das uns beim intensiven VR #73 mit dem männlichen Blick auf Frauen in den Siebzigern konfrontiert hat.
Rain Dogs ist voller dichter Songs über Aussenseiter und verlorene Seelen – beim VR #73 haben wir das längste und eines der vielseitigsten Alben gehört.
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