Der Vinylrausch #73 war überschattet von einem neuerlichen Verlust: mit Cornelia ist vollkommen überraschend eine große Musik- und Vinylrauschfreundin gestorben.
Wir werden sie vermissen!
Von der Innenschau zur Beobachterin
In dem von uns beim Vinylrausch #73 gehörten Trio war und ist Joni Mitchell sicher die komplexeste Musikerin. Sie hat sich in ihrer Karriere von Album zu Album entwickelt und sich dabei, wie ihre beiden männlichen Kollegen, weder von Plattenfirmen noch vom Publikum reinreden lassen.
Auf dem beim Vinylrausch #73 fünfzig Jahre nach dem Erscheinen gehörten The Hissing of Summer Lawns (1975) geht Mitchell einen dieser Entwicklungsschritte. Besonders deutlich wird er in den Texten, die hier die Perspektive wechseln und aus einer intensive Innenschau betreibenden Musikerin eine sensible Beobachterin machen. Die eingeblendeten Songtexte haben uns geholfen, die Protagonistinnen zu erkennen: in Shades Of Scarlett Conquering ist es eine Frau aus den Südstaaten, die von den an sie gestellten Ansprüchen getrieben wird, sich mit den künstlichen Idealbildern einer Kinoheldin zu vergleichen. In Edith And The Kingpin erliegt die Titelheldin dem gewalttätigen Charm eines Mafiabosses und teilt bald darauf voller Zweifel sein Bett.
Der erzählerische Blick von Aussen wird von einer dezent jazzigen, aber weniger schwülstigen Band als auf dem Vorgänger Court and Spark begleitet.
Das etwas spröde Album, auf dem Mitchell statt einprägsamer Melodien eher lange melodische Linien entwickelt, wurde beim Vinylrausch etwas verhalten aufgenommen. Die Kenner hier scheinen die ausgeprägt jazzigeren Alben von Hejira bis Shadows and Light (mit Jaco Pastorius) zu bevorzugen.
Wieder hat uns der BVG-Streik erwischt und es gab darum einige Absagen – trotzdem war die Sputnik-Bar so gut gefüllt, dass wir uns für das nächste Mal wohl etwas überlegen müssen …
Der Captain rumpelt über unscharfe Takte
Er ist eine Legende, die wir 1982 auf dem Berliner Atonalfestival sehnsüchtig, aber leider erfolglos, erwartet haben. Captain Beefheart ist nach Shiny Beast (Bat Chain Puller) (1978) endlich von den jungen Musikern der New Yorker New Wave-Szene, Bands wie den Talking Heads, Pere Ubu oder den B 52’s, als Vorbild wahrgenommen worden. Trotzdem In den Neunzigern waren es dann Noise Rock Bands wie die Pixies, die mit dem ruppelnden Rhythmen von Alben wie Doc at the Radar Station etwas anfangen konnten.
Was für einen starken Einfluss die Musik von Captain Beefheart aber auch auf den besonders in den Achtzigerjahren in Deutschland sehr populären Tom Waits gehabt hat, wurde beim Vinylrausch erstaunt zur Kenntnis genommen.
Obwohl es einige Zuhörer sehr bedauerten, konnten wir nur die A-Seite dieses energetischen Rockalbums voller schrulliger Songperlen hören.
You picked me out, brushed me off
Crushed me while I was burning out
Ashtray Heart
Der längste Rausch – durch Stile und Themen
Tatsächlich ist das vor vierzig Jahren erschienene Rain Dogs mit 19 Songs in über 50 Minuten wohl das längste Album, das wir bisher beim Vinylrausch gehört haben. Und trotzdem ist das Album keine Minute zu lang!
Die Songs sind musikalisch abwechslungsreich und dramaturgisch geschickt über die beiden Seiten verteilt. Sie leben von der Spannung zwischen der charakteristisch rauen Stimme von Tom Waits und der sparsamen, oft ungewöhnlichen Instrumentierung. Es rappelt und rummst, wir hören Straßengeräusche, Bierflaschengeklimper oder Türenschlagen. Es gibt Tango und Polka, Country und Jazz, Rumba oder Swing. Jeder Song ist eine eigene Welt und erzählt eine originäre Geschichte, orientiert an den Underdogs und kauzigen Verlierern, die Waits in New York beobachtet und in den Geschichten von Bukowski oder Kerouac gefunden hat.
Die musikalische Nähe zu Captain Beefheart hat einige Zuhörer verblüfft. Wenn man allerdings weiß, dass Waits seinen Mitmusikern seine Ideen vorgesungen, vorgetanzt oder Beispiele auf einem tragbaren Kassettenrekorder vorgespielt hat, dann hört sich das sehr ähnlich an, wie die Geschichten aus dem Studio mit Captain Beefheart. In einem der seltenen Interviews, die Waits gegeben hat, bemerkt er 1985: »I’m trying to listen more to the noise in my head …«
Rain Dogs ist die geniale Kopfgeburt eines ungewöhnlichen und eigensinnigen Musikers. Es ist in seiner Vielfalt und Komplexität ein wirklich ungewöhnliches Album, dass man 40 Jahre nach seinem Debüt unbedingt wiederentdecken sollte.
My head is a-spinnin’ round
My heart is in my shoes
Well I see that the world is upside-down
Seems that my pockets were filled up with gold
Und übrigens: Spanish Walk bezeichnet einen »unwilligen« Gang … Kein Wunder, das sogar Jesus seinen ’Spanish Walk’ gegangen ist.