Vermutlich war ein Hinweis einer Zuhörerin beim VR #41 ausschlaggebend: David Bowie wurde vermisst!
Auf der Suche nach einem würdigen Rausch zur Zweitnutzung kam dadurch der Vinylrausch II in den Blick, denn da hatten wir das beeindruckend vielseitige ‘Hunky Dory‘ gehört. Das ist dieser Tage 50 Jahre alt geworden und zog dann das »erste Kunstwerk der Rockgeschichte« nach sich: so hat Piero Scaruffi Dylans ‘Blonde on Blonde‘ bezeichnet. Um einen schönen Bogen in die Neuzeit zu schlagen, bot sich Joanna Newsom an, deren Album ‘Ys‘ endlos lange Songgedichte enthält, die an den Dylan von ‘Desolation Row‘ und ‘Blonde on Blonde‘ erinnern.
Ausserhalb des Gesetzes: ‘Blonde on Blonde‘
Grundsätzlich ist bei diesem Album natürlich auf das VINYLRAUSCH MUSIKMAGAZIN, erste Ausgabe, zu verweisen – denn dort gibt es eine ausführliche Rezension, die das Album in Dylans Werk und die Situation Mitte der Sechzigerjahre einordnet.
Dylan war erste 27 Jahre, hatte aber vor ‘Blonde on Blonde‘ schon sechs Alben veröffentlicht. Er war also mittlerweile ein geübter Lyriker und ein gefeierter Songschreiber dazu. Seit seiner Ankunft in New York hatte er das Kulturangebot der Stadt aufgesaugt. Sein Lesehunger war enorm und wenn man der von ihm selbst in seiner Autobiografie ‘Chronicles‘ gefütterten Legende glauben darf, dann hat er in den ersten Monaten seines Aufenthalts von Clausewitz über Rimbaud und Villon bis hin zu Whitman und Kerouac weite Teile der Literaturgeschichte verschlungen.
Besonders beeindruck hat ihn Berthold Brecht: nach dem Besuch des Musicals ‘Brecht on Brecht‘ 1963 hat Dylan das Lied der Seeräuber Jenny komplett auseinandergenommen, um zu verstehen, wie Brecht/Weill ihre Songs aufgebaut haben. Was er dabei entdeckt haben könnte, ist die Freude an Sittenbildern, der Verzicht auf positive Helden bzw. die emotionale Distanz zu ihnen. Dazu die paradoxen Sprachbilder und absurden Umkehrungen, die bei Dylan dann zu Sätzen für die Ewigkeit werden. Ein schönes Beispiel dafür aus ‘Absolutely Sweet Marie‘:
»But to live outside the law, you must be honest«
Wir haben die Verbindung verloren … ‘Hunky Dory‘
Fünf Jahre später beschwert sich David Bowie darüber, dass er die Verbindung zu Dylans Texten verloren hat. Dabei war Bowie Ende 1970 extra nach Amerika gereist, um sein aktuelles Album ‘The Man Who Sold The World‘ zu bewerben und neue Ideen für seine weitere Karriere zu bekommen.
Bowie war erst 24, aber schon sieben Jahre im Musikgeschäft. Er hatte schon viel probiert, darunter auch einige schwer erträgliche Pop-Songs in den ausgehenden Sechzigern. In Amerika zeigte er eine neue Seite von sich: in Frauenkleidern und mit der Ankündigung, zukünftig Pantomime auf der Bühne vorzuführen.
Dazu passt schon mal das Cover von ‘Hunky Dory‘: Das einflussreichste Camäleon unter den Rockstars der Siebziger blickt darauf mit der Geste eines Pantomimen verträumt in den Himmel. Inspirationen für einige seiner besten Songs überhaupt hat er aber nicht dort gefunden, sondern aus Amerika mitgebracht: Andy Warhol, Lou Reed und Iggy Pop gehörten zu seinen Einflüssen.
„The Time may change, but I can’t trace time“ David Bowie in ‘Changes‘
Eine alte Meisterin liebt Kontraste
Joanna Newsom schlug mit überlangen Lyrikvertonungen und einer formal überladenen Covergestaltung den Bogen zurück in die Vergangenheit – und in eine andere Welt. Nicht nur ihr Instrument, die Harfe, auch die barocken Arrangements von Van Dyke Parks deuten auf den ersten Blick auf ein eher traditionelles Kunstverständnis hin. Dabei hat sie den Titel ‘Ys‘ ausgesucht, weil sie ein hartes, kurzes Wort gegen die klassische Malerei des Titelbildes und dessen detailverliebtes Spiel mit versteckten Botschaften setzen wollte.
Ihr Songs borgen sich die Versformen von klassischen Vorbildern, der Inhalt ist dann aber häufig nur bruchstückhaft zu verstehen. Es sind Szenen und Assoziationen, die in einem nicht enden wollenden Sprachfluss eine Erinnerung auf die andere türmt – und damit einigen von Bob Dylans Songs tatsächlich sehr nahekommt.
Dichtung und Wahrheit
Dieser Vinylrausch war extrem textlastig. Während man bei Dylan mit einer großen Zahl an Figuren und ständig wechselnden Szenen zurechtkommen musste, hat Bowie klare Botschaften mit vorsätzlich mysteriösen Texten abgewechselt. Tatsächlich soll er das fantastisch dynamische Finale ‘The Bewlay Brothers‘ nach einem in der Mittagspause vor dem Studio gesehenen Tabakladen benannt haben. Der kryptische Text sei dann ein Angebot an die amerikanischen Hörer gewesen, die gerne Texte entschlüsseln – es lag also nicht ans uns, wenn wir ihn nicht verstanden haben!
Joanna Newsom hat es uns dann mit dem Titelhinweis auf ihre Schwester etwas leichter gemacht, so dass wir in ‘Emily‘ immer wieder nachvollziehbare Szenen entdecken konnten.
Beim nächsten Mal gibt es zur Belohnung und zum Durchatmen einige leicht verständliche Popsongs – gemischt mit progressiven musikalischen Klängen!
Eine aufregende Mischung: Synthesizerexperimente bei Todd, unsterbliche Songs und Kompositionen bei Frank und tiefe Emotionen bei Pere
1974
Todd Rundgren – Todd
Todd ist ein merkwürdiges Sammelsurium an musikalischen Ideen. Furchtlos, abwechslungsreich und “ein Werk voller Tiefe und Leidenschaft” – gehört beim arktischen VR #67
1974
Frank Zappa – Apostrophe (‘)
Apostrophe (‘) war als Quadradisc-Mix eine musikalische Offenbarung voller kruder Wortschöpfungen und überbordender Spielfreunde beim arktischen VR #67
2023
Pere Ubu – Trouble On Big Beat Street
Trouble On Big Beat Street ist ein emotional bewegendes Alterswerk, das mit komplexer Instrumentierung und jazzigem Sound ernst gemacht hat beim arktischen VR #67
Ein furioses Saisonfinale mit packenden Songs auf allen drei Alben. Satte Grooves, komplexe Storys und eine Handvoll Hits...
1974
Bob Marley – Natty Dread
Natty Dread ist radikal, voller Hoffnung auf Veränderungen, mit betörenden Melodien und durchdringendem Beat – Album des Monats beim rebellischen VR#66
1979
The Clash – London Calling
London Calling eines der wichtigsten Rockalben überhaupt, nicht nur der 80er Jahre. Ein Stilmix von Rockabilly über Gipsy-Jazz, Garagenrock und natürlich Reggae – gehört beim VR#66
2003
Ben Harper – Diamonds On the Inside
Diamonds On the Inside ist ein verwirrender Stilmix, abwechslungsreich, Tanzbar und voller Ohrwürmer. Erster Song: eine Reggae-Hymne. Gehört beim VR#66
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