Vermutlich war ein Hinweis einer Zuhörerin beim VR #41 ausschlaggebend: David Bowie wurde vermisst!
Auf der Suche nach einem würdigen Rausch zur Zweitnutzung kam dadurch der Vinylrausch II in den Blick, denn da hatten wir das beeindruckend vielseitige ‘Hunky Dory‘ gehört. Das ist dieser Tage 50 Jahre alt geworden und zog dann das »erste Kunstwerk der Rockgeschichte« nach sich: so hat Piero Scaruffi Dylans ‘Blonde on Blonde‘ bezeichnet. Um einen schönen Bogen in die Neuzeit zu schlagen, bot sich Joanna Newsom an, deren Album ‘Ys‘ endlos lange Songgedichte enthält, die an den Dylan von ‘Desolation Row‘ und ‘Blonde on Blonde‘ erinnern.
Ausserhalb des Gesetzes: ‘Blonde on Blonde‘
Grundsätzlich ist bei diesem Album natürlich auf das VINYLRAUSCH MUSIKMAGAZIN, erste Ausgabe, zu verweisen – denn dort gibt es eine ausführliche Rezension, die das Album in Dylans Werk und die Situation Mitte der Sechzigerjahre einordnet.
Tourbook zur ersten Tour 1978
Dylan war erste 27 Jahre, hatte aber vor ‘Blonde on Blonde‘ schon sechs Alben veröffentlicht. Er war also mittlerweile ein geübter Lyriker und ein gefeierter Songschreiber dazu. Seit seiner Ankunft in New York hatte er das Kulturangebot der Stadt aufgesaugt. Sein Lesehunger war enorm und wenn man der von ihm selbst in seiner Autobiografie ‘Chronicles‘ gefütterten Legende glauben darf, dann hat er in den ersten Monaten seines Aufenthalts von Clausewitz über Rimbaud und Villon bis hin zu Whitman und Kerouac weite Teile der Literaturgeschichte verschlungen.
Besonders beeindruck hat ihn Berthold Brecht: nach dem Besuch des Musicals ‘Brecht on Brecht‘ 1963 hat Dylan das Lied der Seeräuber Jenny komplett auseinandergenommen, um zu verstehen, wie Brecht/Weill ihre Songs aufgebaut haben. Was er dabei entdeckt haben könnte, ist die Freude an Sittenbildern, der Verzicht auf positive Helden bzw. die emotionale Distanz zu ihnen. Dazu die paradoxen Sprachbilder und absurden Umkehrungen, die bei Dylan dann zu Sätzen für die Ewigkeit werden. Ein schönes Beispiel dafür aus ‘Absolutely Sweet Marie‘:
»But to live outside the law, you must be honest«
Wir haben die Verbindung verloren … ‘Hunky Dory‘
Fünf Jahre später beschwert sich David Bowie darüber, dass er die Verbindung zu Dylans Texten verloren hat. Dabei war Bowie Ende 1970 extra nach Amerika gereist, um sein aktuelles Album ‘The Man Who Sold The World‘ zu bewerben und neue Ideen für seine weitere Karriere zu bekommen.
Bowie war erst 24, aber schon sieben Jahre im Musikgeschäft. Er hatte schon viel probiert, darunter auch einige schwer erträgliche Pop-Songs in den ausgehenden Sechzigern. In Amerika zeigte er eine neue Seite von sich: in Frauenkleidern und mit der Ankündigung, zukünftig Pantomime auf der Bühne vorzuführen.
Dazu passt schon mal das Cover von ‘Hunky Dory‘: Das einflussreichste Camäleon unter den Rockstars der Siebziger blickt darauf mit der Geste eines Pantomimen verträumt in den Himmel. Inspirationen für einige seiner besten Songs überhaupt hat er aber nicht dort gefunden, sondern aus Amerika mitgebracht: Andy Warhol, Lou Reed und Iggy Pop gehörten zu seinen Einflüssen.
„The Time may change, but I can’t trace time“ David Bowie in ‘Changes‘
Eine alte Meisterin liebt Kontraste
Joanna Newsom schlug mit überlangen Lyrikvertonungen und einer formal überladenen Covergestaltung den Bogen zurück in die Vergangenheit – und in eine andere Welt. Nicht nur ihr Instrument, die Harfe, auch die barocken Arrangements von Van Dyke Parks deuten auf den ersten Blick auf ein eher traditionelles Kunstverständnis hin. Dabei hat sie den Titel ‘Ys‘ ausgesucht, weil sie ein hartes, kurzes Wort gegen die klassische Malerei des Titelbildes und dessen detailverliebtes Spiel mit versteckten Botschaften setzen wollte.
Ihr Songs borgen sich die Versformen von klassischen Vorbildern, der Inhalt ist dann aber häufig nur bruchstückhaft zu verstehen. Es sind Szenen und Assoziationen, die in einem nicht enden wollenden Sprachfluss eine Erinnerung auf die andere türmt – und damit einigen von Bob Dylans Songs tatsächlich sehr nahekommt.
Dichtung und Wahrheit
Dieser Vinylrausch war extrem textlastig. Während man bei Dylan mit einer großen Zahl an Figuren und ständig wechselnden Szenen zurechtkommen musste, hat Bowie klare Botschaften mit vorsätzlich mysteriösen Texten abgewechselt. Tatsächlich soll er das fantastisch dynamische Finale ‘The Bewlay Brothers‘ nach einem in der Mittagspause vor dem Studio gesehenen Tabakladen benannt haben. Der kryptische Text sei dann ein Angebot an die amerikanischen Hörer gewesen, die gerne Texte entschlüsseln – es lag also nicht ans uns, wenn wir ihn nicht verstanden haben!
Joanna Newsom hat es uns dann mit dem Titelhinweis auf ihre Schwester etwas leichter gemacht, so dass wir in ‘Emily‘ immer wieder nachvollziehbare Szenen entdecken konnten.
Beim nächsten Mal gibt es zur Belohnung und zum Durchatmen einige leicht verständliche Popsongs – gemischt mit progressiven musikalischen Klängen!
Weltschmerz bei Ambros, ekstatische Lebensfreude bei Bilderbuch und melancholische Verzweiflung bei Culk.
1975
Wolfgang Ambros – Es lebe der Zentralfriedhof
Es lebe der Zentralfriedhof hat den VR #74 mit einer überraschenden Mischung aus Folk-Rock, orchestralem Pop, Walzerzitaten und melancholisch-lebensfrohen Texten eröffnet.
2015
Bilderbuch – Schick Schock
Schick Schock hat uns beim recht düsteren VR #74 mit einer herzerfrischend lässigen Mischung aus Elektrofunk, Hip-Hop und harten Rockriffs und vielen brillanten musikalischen Ideen überzeugt.
2023
Culk – Generation Maximum
Generation Maximum hat beim VR #74 für Diskussionen gesorgt. Eine schonungslose, ernst und düster scheinende Selbstbetrachtung der Generation Z voller brodelnder Energie.
Ein intensiver Vinylrausch mit männlichen Blicken aus weiblicher Perspektive und rumpelnden Klängen von zwei eigenwilligen Stimmen.
1975
Joni Mitchell – The Hissing of Summer Lawns
The Hissing of Summer Lawns ist ein reiches Werk, das uns beim intensiven VR #73 mit dem männlichen Blick auf Frauen in den Siebzigern konfrontiert hat.
Rain Dogs ist voller dichter Songs über Aussenseiter und verlorene Seelen – beim VR #73 haben wir das längste und eines der vielseitigsten Alben gehört.
Ein Rausch, in den wir uns hineinfallen lassen konnten: über dreißig Jahre Musikgeschichte, von Rhythmusschleifen getragen ...
1972
Can – Ege Bamyasi
Auf Ege Bamyasi haben Can zu ihrem Sound gefunden: lange, repetitive Improvisationen auf Seite A, Hits und herausfordernde Experimente auf der B Seite. Gehört beim puren VR #72
1985
The Fall – This Nation’s Saving Grace
This Nation’s Saving Grace steckt voller Überraschungen und ist gleichzeitig von ständig wiederholten Rhythmus-Patterns geprägt. Ein kraftvolles Erlebnis beim VR #72
2005
Tocotronic – Pure Vernunft darf niemals siegen
Pure Vernunft darf niemals siegen hat mit lakonischen Texten und der hypnotischen Qualität zweier verzerrte Gitarren endlich die Hamburger Schule zum VR #72 gebracht.
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