Die gewaltige Review #40: Blues und Rock – Kunst und Dada
Der vierzigste war in der Tat ein gewaltiger Rausch, schon was die musikalische Zeitspanne angeht: zwischen dem ersten Album von Howlin Wolf, das 1962 erschienen ist, und der ‘Winterreise’ von Jerskin Fendrix lagen 58 Jahre.
»Trouble is knocking« – Howlin Wolf ‘Rockin Chair’ (1962)
Blues- und Rocksongs sind Anfang der Sechzigerjahre fast ausschließlich auf Singles herausgekommen. Kein Wunder also, das auch das legendäre ‘Rockin Chair’ Album von Howlin Wolf eine Zusammenstellung von sechs Singles ist, die zwischen 1958 und 61 bei Chess-Records erschienen sind. Die Songs auf diesem Album hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die junge Musikergeneration, die mit dem Rock’n’Roll aufgewachsen ist und schon Ende der Sechziger die in immer neue musikalische Richtungen drängende Rockmusik an ihre Blues-Wurzeln erinnern wollte. Dazu gehörten nicht nur die englischen Bluesrocker wie John Mayall, Cream oder Led Zeppelin, sondern auch amerikanische Westküstenbands wie The Doors, die Wolfs ‘Back Door Man’ auf ihrem Debüt in ein psychedelisches Orgelinferno verwandeln.
Deren groovige Aneignung hat mit dem harten Chicago-Blues, den Howlin Wolf zusammen mit der Hausband von Chess Records eingespielt hat, nur noch wenig zu tun. Es sind klassische, 12-taktige Bluessongs, die von Wolfs Stimme, Howard Sumlins Gitarre und den provokanten Texten von Willie Dixon leben.
Nach einem Vergleich der von Jürgen zur Verfügung gestellten grünen Pressung von 2018 mit der ‘Musik On Vinyl’ Pressung von 2015 haben wir uns aus mehreren Gründen für letztere entschieden. Seltsam war, dass auf der neueren Pressung einzelne Stücke, bei gleichem musikalischem Inhalt, bis zu 30% länger sind. Sie müssen also langsamer überspielt worden sein.
Frank Zappa hat zwar selten selbst Blues gespielt, er war aber ein großer Freund dieser Musik seiner Jugend. In mehreren Interviews in den Siebzigern erzählt er, das während seiner Tourneen im Bus nur Blues läuft, von Howlin Wolf oder Muddy Waters.
Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. (Dadaistisches Manifest 1918)
»Blank … Empty … Space« – Frank Zappa ‘We’re Only In It For The Money’ (1967)
‘We’re Only In It For The Money’ ist tatsächlich ein beeindruckendes Gewirr von Melodien, Songfragmenten, bewegenden Gesellschaftsportraits und eher infantilem Schüler-Humor, unter anderem. Unzweifelhaft ein Meilenstein der Rockmusik, den wir aktuell ausgesucht haben, weil der Vinylrausch-Gastgeber und musikalische Kurator der Veranstaltung in diesem Meilensteine-Podcast des SWR tatsächlich als ‘Zappa-Experte’ einige Hinweise zum Album und zur Musik geben durfte. Dort dürfen Musikbeispiele aus urheberrechtlichen Gründen immer nur maximal dreissig Sekunden lang sein – da war unser Vinylrausch eine hervorragende Ergänzung.
Es lohnt sich wirklich, sich dieser musikalischen Wildwasserfahrt ohne Pause auszusetzen. Auch wenn immer wieder musikalische Motive auftauchen, die man gerne länger und in ruhigerem Fahrwasser genießen würde, bleibt diese Form einer tönenden Collage etwas beeindruckend besonderes. ‘We’re Only In It For The Money’ ist ein aus dem Kanon der Rockmusik herausragendes Gesamtkunstwerk, dessen ‘gewaltiger Hokuspokus’ nicht nur ‘die Nerven des echten Dadaisten’, sondern auch des echten Rockmusikliebhabers ‘beschwingt’.
Zur weiteren Information über das Album selbst sei, bis zum Erscheinen eines zukünftigen Vinylrausch Musikmagazins mit einer ausführlichen Besprechung, auf den angesprochenen Podcast verwiesen.
Ja-sagen — Nein-sagen: das gewaltige Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des echten Dadaisten. (Dadaistisches Manifest 1918)
Mit dem im Titel des Albums ‘Winterreise’ angelegten Bezug zu Franz Schubert und seinem gleichnamigen romantischen Liederzyklus führt uns Fendrix an der Nase herum. Das Album wird zwar mit einem kurzen Klavierstück eingeleitet, explodiert dann aber zu einer modernen Collage aus elektronischen Beats, Alltagsgeräuschen, Pop-Melodien und bedrohlich verfremdeten Gesangsstimmen. Eine moderne Collage, die in ihrer Radikalität und Unvorhersehbarkeit beeindruckt hat.
Gegen Ende seines Lebens hat Zappa Ende der Achtzigerjahre mit dem Synklavier einen der ersten Musikcomputer genutzt. Er war ein großer Fan der elektronischen Klangverarbeitung, denn der Computer war der erste Mitarbeiter, der tatsächlich exakt die Töne produzierte, die sich der Komponist ausgedacht hatte. Zappa hat also, wie Fendrix, einige seiner letzten Alben allein und am Computer komponiert.
Fendrix gehört zu einer Reihe junger englischer Komponisten, die keine Grenzen kennen und moderne Musik als einen Steinbruch betrachten, der geplündert und neu aufgeschichtet werden kann. Mindestens mit seiner radikalen Musikalität, der Lust am Experiment und der Unverfrorenheit seiner Kompositionen schlägt er einen Bogen zu der mutigen Musikalität von Frank Zappa.
Es gibt nur wenige Alben, bei denen lange vorher schon sonnenklar ist, dass sie zu ihrem Jubiläum beim Vinylrausch gefeiert werden müssen. Ball Pompös ist eines davon.
1973
Atlantis – Atlantis
Atlantis klingt mit der kraftvollen Stimme von Inga Rumpf und dem breiten, im Progrock angesiedelten Genremix sehr international – beim VR #69
1974
Udo Lindenberg & das Panik-Orchester – Ball Pompös
Ball Pompös hat mit intelligenten, einfühlsamen Texten die deutsche Sprache elegant und weich in der Rockmusik etabliert. Gehört beim deutschen VR #69
1982
Foyer Des Arts – Von Bullerbü Nach Babylon
Von Bullerbü Nach Babylon steckt voller wunderbarer Wortwendungen und provokanter Alltagsbeobachtungen. Ein Perle des deutschen Art-Rock beim VR #69
Was eine Ikone der Jazzgeschichte und das beste Rockinstrumental überhaupt miteinander zu tun haben ... gehört beim VR #68!
1959
Miles Davis – Kind of Blue
Kind of Blue ist das Jazzalbum schlechthin und eines der einflussreichsten Alben überhaupt. Wir haben beim VR#68 dem Einfluss auf die Rockmusik nachgehört.
1969
Julie Driscoll, Brian Auger & The Trinity – Streetnoise
Streetnoise ist alles andere als Straßenlärm: Die erstaunliche Stimme von Julie Driscoll hat beim VR#68 den All Blues von Miles Davis gesungen
Eine aufregende Mischung: Synthesizerexperimente bei Todd, unsterbliche Songs und Kompositionen bei Frank und tiefe Emotionen bei Pere
1974
Todd Rundgren – Todd
Todd ist ein merkwürdiges Sammelsurium an musikalischen Ideen. Furchtlos, abwechslungsreich und “ein Werk voller Tiefe und Leidenschaft” – gehört beim arktischen VR #67.
1974
Frank Zappa – Apostrophe (‘)
Apostrophe (‘) war als Quadradisc-Mix eine musikalische Offenbarung voller kruder Wortschöpfungen und überbordender Spielfreunde beim arktischen VR #67.
2023
Pere Ubu – Trouble On Big Beat Street
Trouble On Big Beat Street ist ein emotional bewegendes Alterswerk, das mit komplexer Instrumentierung und jazzigem Sound ernst gemacht hat beim arktischen VR #67
Dieser Beitrag hat 0 Kommentare