Skip to content

Rückblick auf einen modalen Vinylrausch #68

Dieser Vinylrausch hat mal wieder ein Eigenleben entwickelt, denn zuerst stand Streetnoise von Juli Driscoll, Brian Auger & Trinity als These im Mittelpunkt. Sobald aber aufgrund der Coverversion von ‘All Blues’ auf Streetnoise das gerade 65 Jahre alte gewordene Kind of Blue von Miles Davis in den Fokus geraten ist, hat sich das Zentrum verschoben: dieses Ikon der Musikgeschichte mußte ein Album des Monats werden.

Skizzen für ein inspiriertes Ensemble

Über Kind of Blue ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Beim vollbesetzten Vinylrausch #68 – Radio 3 hatte am Vortag einen Kulturtipp ausgestrahlt – haben wir der Faszination dieses Albums nachgespürt: Es ist eine ungewöhnlich inspirierte Gruppenleistung, die von Miles Davis mit seinem Ansatz, traditionelle Songformen mit einer neuen Herangehensweise zu verbinden, initiiert wurde. Der modale Jazz lag in der Luft, denn die immer dichter und anspruchsvoller werdenden Akkordwechsel des BeBop schränkten die Kreativität zunehmend ein.

Dagegen boten Improvisationen, die Tonleitern (Modes) oder Tonfolgen folgen, mehr Freiheiten für die Musiker und für Miles Davis die Möglichkeit, seinen lyrischen Stil mit Pausen und ruhigen Passagen weiterzuentwickeln. Diese aus der arabischen und indischen Musikkultur entlehnte Herangehensweise fördert die Konzentration auf melodische Entwicklung – und hat in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre auch die Rockmusik nachhaltig beeinflusst.

Von Kind of Blue haben wir die A-Seite als Stereofassung und die B-Seite in einer Monopressung von 2013 gehört. Für mich hatte die Monofassung deutliche Vorteile gegenüber der mir zu willkürlichen Verteilung der Soloinstrumente auf zwei Stereokanäle. Da gab es aber auch andere Meinungen, jeweils die Hälfte der Zuhörer tendierte zu der einen oder anderen Mischung.

Unser Dank geht an den Musikwissenschaftler Frédéric Döhl, der uns nach dem Album sein gerade erschienenes Buch 'Jazz 1959, Kleine und große Geschichten aus einem goldenen Jahr' vorgestellt hat. In dem erhellenden Überblick über die umfangreichen Veröffentlichungen im Jahr 1959 nimmt Kind of Blue natürlich einen besonderen Raum ein. Unbedingt zu empfehlen und zurzeit noch als OpenAcess verfügbar!

Hier spricht Frédéric Döhl auf Radio 3 (RBB) über sein Buch und die Bedeutung von Kind of Blue.

Modale Inspirationen vom Friedhof

Es ist einer der beeindruckendsten, vielleicht auch der besten Instrumentalsongs der Rockgeschichte: ‘In Memory of Elizabeth Reed’ ist von dem Grabstein auf einem Friedhof inspiriert, auf dem die Allman Brothers Band ihre Pausen verbracht haben. Er findet sich auf der dritten Seite von At Filmore East und paßt perfekt zu Miles Davis Kind of Blue, weil das Gitarrenspiel von Duane Allman ganz besonders von diesem Album beeinflusst ist. Seine fließenden, lyrischen Gitarrensoli bewegen sich langsam, über wenige Noten und schlagen einen damit auf geheimnisvolle Weise in ihren Bann. Duane Allmans einzigartige, melodische Improvisationen sind der hörbare Beleg dafür, was für einen großen Einfluss das legendäre Jazzalbum selbst über Genregrenzen hinweg ausgeübt hat.

‘In Memory Of Elizabeth Reed’ ist ein Monolith in der Rockmusik, ein perfekt scheinendes Zusammenspiel, das von berstender Spielfreude geprägt ist. Der Song besticht mit einfachen Melodien, einem beeindruckend sicheren Unisono-Spiel zweier großartiger Gitarristen und einem ebenso beeindruckenden Rhythmuspart, in dem der Bass sogar die Freiheiten hat, melodische Läufe zu spielen.

Nach der dritten Seite von At Filmore East gab es nach diesem musikalischen Geschenk andächtiges Schweigen – bis schließlich ein Kommentar die deutlich hörbaren Bezüge zum Stil von Kind of Blue betonte.

Some blues are sad, but some are glad

Als Finale wurde die vierte Seite von Streetnoise aufgelegt. Darauf befindet sich der Song All Blues von Kind of Blue, der hier zehn Jahre nach dem Orginal von einer psychedelischen Jazzrock-Band gespielt wird. Sie übernehmen den Basslauf und den als stetige Figur wiederholten Pianoakkord. Prägend ist aber die ungewöhnlich flexible Stimme von Julie Driscoll, die auf den Song den von Oskar Brown jr. geschriebenen Text singt.

Ende der Sechzigerjahre war Julie Driscoll ein großes, von der englischen Musikpresse gefeiertes Talent. Leider hat sie sich nach der Heirat mit Keith Tippett immer weniger für Rockmusik interessiert. Das Rocklexikon formulierte es in einer Ausgabe aus den Siebzigerjahren sehr pragmatisch: »das hochbegabte, introvertierte Mädchen … konvertierte zum Free Jazz.«

Die spannende Stimme und der energische Groove von Brians Augers Orgel prägen auch die Hitsongs der Band – und waren für mehrere Besucher des Vinylrausch #68 eine neue und sehr bemerkenswerte Entdeckung! Für alle, die Juli Driscoll, Brian Auger & The Trinity erleben sollen, gibt es in den Archiven des WDR einen fantastischen Live-Auftritt aus den Sechzigerjahren. Unbedingt lohnenswert:

Ein runder Abend mit einem vielfältigen Programm, der nach einem am Vortag bei Radio 3 ausgestrahlten Kulturtipp von durchweg begeisterten Zuhörern besucht wurde.

Bedauerlicherweise war der Abend von einem Schwächeanfall eines Gastes überschattet. Zur Beruhigung sei angemerkt, dass er keine dramatischen Folgen hatte und der Patient noch in der Nacht wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde!

Vinylrausch #68
1. Julie Driscoll, Brian Auger & The Trinity – Streetnoise (1969)
2. The Allman Brothers Band – At Fillmore East (1971)
3. Miles Davis – Kind of Blue (1959)
4. Rückblick auf einen modalen Vinylrausch #68
An den Anfang scrollen
Suche