Musikalisch konnte der Psycho-Rausch mit einigen Überraschungen aufwarten:
Tim Buckley war einer der Wegbereiter des Psychedelic Folk, der mit ‘Happy Sad’ (1969) seine eigene Stimme gefunden hat. Mit einem von tiefem Weltschmerz geprägte Sound hat er den Folk-Song erweitert und verändert. Die Stimmung wird schon im ersten von uns gehörten Stück, dem ‘Dream Letter’ auf der B-Seite, von der ungewöhnlichen, jazz-orientierten Instrumentierung mit Vibraphon und Kontrabass und von Buckley’s frei über der Musik mäandernden Stimme geprägt. Sie hat sich bei Buckley von der engen Bindung an Text und Melodie emanzipiert und für eine häufig improvisiert scheinende Intonation geöffnet, die sich am Jazzgesang orientiert.
Der vergessene Sänger
Nach diesem Klassiker haben wir den weniger bekannten, aber bis heute aktiven Shawn Phillips aufgelegt. Sein zweites und vermutlich bestes Album ‘Second Contribution’ (1970) ist ein großer, abwechslungsreicher Wurf, der vom Jazz jetzt den vollen Sound der klassischen Orchester übernommen hat. Phillips ist eine Meister der zwölfsaitigen Gitarre und war einer der ersten Sitar-Spieler, der bei Ravi Shankar gelernt hat. Er soll sein Wissen dann später an George Harrison und Joni Mitchell weitergegeben haben.
Das Cover zeigt Shawn Phillips allein mit seiner Gitarre. Dieses Versprechen löst aber neben dem letzten Song des Albums ‘Steel Eyes’ nur der erste Teil der beeindruckenden Ballade ‘The Ballad of Casey Deiss’ ein, denn wie alle anderen Songs treibt auch dieses Stück zum Ende hin in ein großes Orchester-Arrangement hinein. Shawn Phillips Musik lebt von der großen Spannung zwischen dem reinen Gitarrensound, seiner mehr als fünf Oktaven umfassenden Stimme und der spannend und variabel entwickelten Orchestrierung. Für diese Arrangements war Paul Buckmaster verantwortlich, der u.a. mit David Bowie bei ‘Space Oddity’ und mit den Rolling Stones bei ‘Sway’ und ‘Moonlight Mile’ (auf ‘Sticky Fingers’) zusammengearbeitet hat.
‘Second Contribution’ war für viele Zuhörer eine Entdeckung, die sie mit ihrer mitreissenden Dynamik und den intensiven, rhythmisch geprägten Songs beeindruckt hat.
Noise statt Orchester
Der um die Jahrtausendwende auftauchende neue Freak-, Alternative- oder Free Folk knüpft an diese Tradition an, ohne die dominierend jazzigen Elemente des Psychedelic Folk zu übernehmen. Bei Ben Chasny, der sein Soloprojekt unter dem Namen Six Organs of Admittance verfolgt, hat denn auch auch der Drone das große Orchester ersetzt. Der moderne Folk ist nun wieder handgemacht, braucht aber noch immer den musikalischen Kontrast, der auf ‘The Sun Awakens’ (2006) in den laut aufbrausenden Noise-Passagen von ‘Black Wall’ bezeichnender Weise nach fast genau der Hälfte von Seite A den Dreh- und Angelpunkt des Albums markiert. Der zentrale Lärm erwächst aus dem Drone, dem gehaltenen verzerrten Ton, der diese Musik, die sich auf eine elektronisch verfremdete Stimme und gefällige Melodiefragmente zurückgezogen hat, gleichzeitig nährt und befruchtet.
Nach einem von Morricone beeinflussten Western-Motiv und weiteren Übungen in Fingerfertigkeit und kompaktem Krach war der Psycho-Rausch dann auch schon wieder vorbei – und hat eine ganze Reihe von beseelten Gesichtern in die Nacht entlassen.
Ein furioses Saisonfinale mit packenden Songs auf allen drei Alben. Satte Grooves, komplexe Storys und eine Handvoll Hits...
1974
Bob Marley – Natty Dread
Natty Dread ist radikal, voller Hoffnung auf Veränderungen, mit betörenden Melodien und durchdringendem Beat – Album des Monats beim rebellischen VR#66
1979
The Clash – London Calling
London Calling eines der wichtigsten Rockalben überhaupt, nicht nur der 80er Jahre. Ein Stilmix von Rockabilly über Gipsy-Jazz, Garagenrock und natürlich Reggae – gehört beim VR#66
2003
Ben Harper – Diamonds On the Inside
Diamonds On the Inside ist ein verwirrender Stilmix, abwechslungsreich, Tanzbar und voller Ohrwürmer. Erster Song: eine Reggae-Hymne. Gehört beim VR#66
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