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Eine unterhaltsame Rückschau – Vinylrausch #59

Ein in vieler Hinsicht ungewöhnlicher Vinylrausch, bei dem es endlich mal etwas zu lachen gab. Das hatten wir weniger der Musik als vielmehr unserem Gast Lüül zu verdanken, der herrlich plastisch und sehr lebendig von den Anfängen seines Lebens als Musiker und den ersten Auslandserfahrungen seiner Band Agitation Free im vorderen Orient berichtet hat.

Lutz ‘Lüül’ Graf-Ulbrich beim Vinylrausch #59 im Oktober 2023

Der Sohn des Nichts

Musikalisch haben wir natürlich mit Pink Floyd begonnen, denn diese Band hatte Anfang der Siebziger einen großen Einfluss auf viele Musiker, so auch auf die gerade erst zwanzigjährigen Musiker von Agitation Free.

Wie erwartet (dazu gab es tatsächlich vorher einige Anfragen …) wurde die zweite Seite aufgelegt: ‘Echoes‘ ist ein epischer, über 23 Minuten langer Song, der bei Pink Floyd den Übergang vom psychedelischen Rock zum Progrock markiert. Das Stück ist aus einer ganzen Reihe von Improvisationen hervorgegangen, die von der Band im Studio als ‘Nothing 1-24‘ durchnummeriert wurden. Daraus wurde dann für den eine Plattenseite einnehmenden Song der Arbeitstitel ‘Son of Nothing‘ und schließlich ‘Return of the Son of Nothing‘.

Die Unterwasseratmosphäre und besonders die im experimentellen Mittelteil von David Gilmore erzeugten ›Walgesänge‹ erinnern deutlich an ‘1983‘ von Jimi Hendrix. In dem ungewöhnlichen Song auf Electric Ladyland hat Hendrix die Transformation der Menschheit durch die Rückkehr ins Wasser, an den Ursprung allen Lebens, mit beeindruckenden Soundeffekten begleitet.1 Während Hendrix für das menschliche Leben auf diesem Planeten wenig optimistisch ist, hat Roger Water in dem etwas pathetisch wirkenden Text die Menschen aus seiner Unterwasserwelt in einen neuen Morgen der Menschheit getrieben.

Besonders in den groovigen, von David Gilmores Gitarre geprägten Passagen, war das allen bekannte Stücke immer wieder mitreissend. In der Diskussion danach wurde allerdings angemerkt, dass man doch viele Elemente hört, die von der Band erst auf dem nachfolgenden Meisterwerk The Dark Side Of The Moon ausentwickelt werden.

Konsequent, Minimalistisch, Innovativ

Das Pink Floyd die jungen Musiker von Agitation Free stark beeinflusst haben, kann man auf ihrem Debüt Malesch deutlich hören: ‘Sahara City‘ enthält einen langen, ruhigen elektronischen Part, in dem es blubbert, tropft und sphärische Tonschleier durch den Raum wabern. ‘Puls‘ scheint sich an der monotonen Frequenzen des Echolots zu orientieren und in dem sich langsam über einem gehaltenen Ton entwickelnden ‘Khan El Khalili‘ klingt die Wüste so, als sei auch sie eine Unterwasserwelt.

Dieses wirklich beeindruckend konsequente Album hat bis heute nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient. Die sich langsam entwickelnden musikalischen Räume und die über Drones geschichteten elektronischen Klänge haben vorweggenommen, was ein paar Jahre später von Brian Eno unter dem Begriff Ambient zu einem Genre geprägt werden sollte.

So atmosphärisch das nur aus instrumentalen Songs bestehende Album einerseits ist, steckt es auf der anderen Seite voller rhythmischer Spannung und überraschender elektronischer Soundideen. Agitation Free verbinden Einflüsse aus einer Nahost-Tour, die die junge Band 1971 auf Einladung des Goehte-Institutes spielen durfte, mit ihrer Vergangenheit als Schüler Beat-Band in den Sechzigerjahren und den Ideen minimalistischer Komponisten wie Terry Riley oder Steve Reich, die sie im Electronic Beat Studio über Thomas Kessler kennengelernt haben.

Electronic Beat Studio / Berlin Wilmersdorf

Die Idee, das für die Berliner Krautrock-Szene so wichtige Electronic Beat Studio mit einer Gedenktafel zu würdigen, stammt von Bernd Radowitz. Bernd hat nicht nur die Webseite rockinberlin.de ins Leben gerufen, er war auch bis kurz vor seinem Tod ein begeisterter Vinylrausch-Besucher, an den wir uns gerne erinnern.

Thomas Kessler ließ die Band Kompositionen von dem John Cale / Terry Riley Album ‘Church Of Anthrax‘ spielen und animierte sie, mit gefundenen Tönen zu experimentieren. Auf Malesch verbinden dann auch dokumentarische, auf der Nahost-Tour gemachte Tonfragmente, die Songs miteinander.

So ist ein Konzeptalbum entstanden, das mit Music Concrete Elementen, minimalistischen Soundcollagen und ungewöhnlichen elektronischen Soundideen in Deutschland ziemlich einmalig geblieben ist.

Lutz ‘Lüül’ Graf-Ulbrich beim Vinylrausch #59 im Oktober 2023

Die minimalistische Orgel von Peter Michael Hamel, die auf zwei Stücken von Malesch zu hören ist, war bei diesem Rausch die Überleitung zu der ebenfalls von gehaltenen Orgeltönen geprägten Aufnahme ‘Bloodstream‘ von The Necks.

Lutz ‘Lüül’ Graf-Ulbrich beim Vinylrausch #59 im Oktober 2023

Ein pulsierender, und doch statischer Blutstrom

Das dritte Album beim hypnotischen Vinylrausch #59 steht für einen ungewöhnlichen, in jedem Fall aber minimalistischen musikalischen Ansatz. Das Trio The Necks spielt in der klassischen Jazz-Besetzung Schlagzeug, Bass und Piano seit fast vierzig Jahren zusammen. Von Anfang an war es das Konzept der Band, zu improvisieren: Es sollten dabei aber niemals Kompositionen gespielt werden, und auch kein Soli!

Auf dem Album Travel haben The Necks 2023 vier halbstündige Improvisationen veröffentlicht, die diesen Vorgaben folgen und mit denen sich die Band an Studiotagen warmgespielt hat. The Necks schaffen in scheinbar blindem musikalischen Vertrauen einen kompakten musikalischen Raum, der statisch zu sein scheint und sich nur sehr langsam und träge entwickelt. Die Basis von ‘Bloodstream‘ ist ein pulsierendes Orgelmotiv, das von einem gehaltenen Ton begleitet wird. Irgendwann setzen perlende Pianoläufe ein, die ziellos mäandern und von dichten, an und abschwellenden Trommelläufen begleitet werden.

Eine faszinierende, auf der Stelle tretende Musik, die als mächtiger Klangkörper wie ein vielschichtiges Drone wirkt und uns, ganz im Sinne von La Monte Young, auf uns selbst zurückgeworfen hat.

Die Faszination für diesen ungewöhnlichen Ansatz hat sich nicht allen Zuhörern erschlossen – wurde aber allgemein als passender Abschluss des einerseits hypnotischen, andererseits aber auch überaus unterhaltsamen Vinylrausch #59 gewürdigt.

Herzlichen Dank an Lüül, der uns mit seinen lebendigen Geschichten an der Entstehung von Malesch teilhaben ließ!

Agitation Free sind immer noch aktiv und werden im November 2023 ein neues Album veröffentlichen.

  1. Siehe dazu den ausführlichen Artikel im VINYLRAUSCH MUSIKMAGAZIN #1 ↩︎
Vinylrausch #59
1. The Necks – Travel (2023)
2. Agitation Free – Malesch (1972)
3. Pink Floyd – Meddle (1971)
4. Eine unterhaltsame Rückschau – Vinylrausch #59

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