Kurz vor Weihnachten hatten wir uns viel vorgenommen, etwas zu viel, wie sich herausstellen sollte. Das zweijährige Jubiläum vom Vinylrausch, die Sonnenwende und der Geburtstag von Frank Zappa waren genug Anlässe für ein ambitioniertes Programm, das wir mit der A-Seite von Absolutely Free zu dessen 50jährigem Jubiläum würdig begonnen haben.
Ruf das Gemüse an – Absolutely Free
Zappa’s Musik zeigt sich auf diesem Album augenscheinlich im Widerspruch zu der von Adorno in der modernen Musikrezeption diagnostizierten „Regression des Hörens“, denn weder haben wir es mit „leichter“ Musik zu tun, noch wird sie uns zum rein passiven Konsum angeboten. Im Gegenteil: hier müssen wir mitarbeiten und uns zuallererst mal das Libretto für einen Dollar zuschicken lassen – die Plattenfirma hatte sich nämlich geweigert, die verdächtig anstößigen Texte dem Album beizulegen. Heute haben wir das im Netz ja alles zur Verfügung – Avo Raup bietet auf afka.net tatsächlich jede jemals gedruckte Zeile über Zappa als Text und Faksimile an – und wir konnten darum das Original-Libretto auf der Leinwand mitlesen.
Gleich im ersten Stück Plastic People bricht Zappa mit einem ironischen musikalischen Kommentar zur leicht konsumierbaren Popmusik seiner Zeit dann auch schon bekannte Hörgewohnheiten auf: Plastic People basiert auf der simplen Tanznummer Louie Louie, die ihm von Besitzer des Whiskey-A-Go-Go in LA empfohlen wurde, als er sich danach erkundigte, was er tun müsse, um die Leute zum Tanzen zu bringen: natürlich was einfaches spielen, das sie kennen!
Zappa hatte das Stück schon früher in Tanzkapellen und bei den Soul Giants immer wieder spielen müssen, weil das simple Riff und der „gnadenlos bescheuerte“ (FZ), aber ausreichend anrüchig interpretierbare Text genug Wiedererkennungswert hatte, um auch die unbedarftesten Tänzer auf die Tanzfläche zu locken. Das Zappa einfachen Melodien nicht grundsätzlich abgeneigt war, zeigt aber schon seine Liebe zum Doo-Wop und dem mehrstimmigen 50er Jahre Schlager, dem er ja mit Cruising With Ruben & The Jets ein ganzes Album gewidmet hat. Die immer wiederkehrende Beschäftigung mit Louie Louie, das in Zappas Werk zu den am häufigsten von ihm zitierten oder angespielten Stücken gehört, wird denn auch einer Art Hassliebe ensprungen sein – wie heißt es doch am Ende von Plastik People: …you think we are singing about someone else?
Zappa benutzt Louie Louie auf Absolutely Free nicht nur als Vorlage, um daraus das ungleich vielschichtigere Plastic People zu entwickeln, sondern mehrfach noch als kurzes motivisches Zitat, z.B. in Suzie Creamcheese auf der B-Seite. Der Song wird von ihm, auch in seinem weiteren Werk, immer wieder als Chiffre für eine kommerziell ausgerichtete Unterhaltungsindustrie verwendet, die den von Adorno postulierten Fetischcharakter moderner Unterhaltungsmusik bedient und den Zuhörer auf den Status eines möglichst unbedarften und schnell zu befriedigenden Konsumenten reduziert, ihn also weder herausfordern noch verwirren will. Genau das aber hat Zappa mit seiner Musik vor, die hier auch noch in der Form eines geistlichen Singspiels auftritt, eines zweiteiligen Oratoriums, zu dessen Verständnis uns der Gebrauch des Librettos dringend empfohlen wird.
Die Texte aber kreisen, zumindest auf der von uns gehörten A-Seite, hauptsächlich um Gemüse – auch wenn der Herzog der Pflaumen neben seinem Käse noch freigiebig seine Liebe anbietet, ist das wohl doch eher, wie Zappa behauptet, DADA als wirklich anstössig. Herausfordernder ist da schon der musikalische Aufbau, der zum Beispiel am Ende von Call Any Vegetable in Anlehnung an Kompositionstechniken von Charles Ives drei Melodien gleichzeitig gegeneinander antreten läßt.
Mit Hilfe des auf die Leinwand projizierten Librettos, einiger Beispiele aus den Notenblättern und der doppelten Einleitung, in der auch Frank Wonneberg einige spannende Details besonders zu Brown Shoes Don´t Make It beitrug, ist es uns dann aber gelungen, diese musikalische Herausforderung mit einem genauso beschwingten wie lehrreichen Rausch zu meistern.
Danach gab es das versprochene, bisher unveröffentlichte Interview vom 07.12.1993, in dem Bunk Gardner, Don Preston und Jimmy Carl Black drei Tage nach Zappas Tod über die Zusammenarbeit mit Zappa, seine Arbeitstechnik und seine Anforderungen als Kapellmeister an sie als Musiker berichtet haben.
Belgische Helden – dEUS
Für viele Zuhörer waren dann dEUS, deren großartige Platte In A Bar Under The Sea von vielen Liebhabern für ihre beste gehalten wird, eine echte Überraschung. Aufregende Musik, die besonders durch ungewöhnliche Passagen, wie durch einen durchs Telefon gesungenen Song, und ihre Stilwechsel vom Gitarrenpop über Cool Jazz und Grunge-Lärm bis hin zu romantischen Popsongs herausforderte.
Das hatte sicher nicht die Geschlossenheit des von Zappa konstruierten Oratoriums, aber die Vielfalt der musikalischen Ideen und z.B. der gegenläufig angelegte, gleichzeitig zwei unterschiedliche Melodien verfolgende Gesang bei Opening Night, das sich tatsächlich mit der wunderbaren Gena Rowlands in John Cassavetes gleichnamigen Film beschäftigt, machten die Platte zu einem würdigen, 30 Jahre jüngeren Counterpart – und der Produzent Eric Drew Feldman, der nicht nur Pere Ubu, Frank Black und PJ Harvey produziert hat sondern auch seit 1976 an als Bassist in Captain Beefhearts Magic Band gespielt hat, deutet dann sogar direkt in den erweiterten Umkreis von Zappas Musik.
Zur Pause hatten wir also schon einiges geschafft – leider aber auch so viel Zeit mit Talk und Infos, Interview-Videos und extralangen Plattenseiten verbraucht, dass uns die vorprogrammierte Kino-Maschine dann im zweiten Teil, kurz vor Ende des bombastischen Big Swifty, den Saft abgedreht hat. Für Waka / Jawaka werden wir also bei nächster Gelegenheit mit großem Vergnügen nachsitzen müssen…
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