Es gibt nur wenige Alben, bei denen lange vorher schon sonnenklar ist, dass sie zu ihrem Jubiläum beim Vinylrausch gefeiert werden müssen. Ball Pompös ist eines davon.
Echtes Leben, gescheiterte Lieben und jede Menge abgedrehte Sätze
Es ist ein Album, das einer ganzen Generation von pubertierenden Jugendlichen geholfen hat, die Welt um sie herum ein bisschen besser zu verstehen. Englische Texte waren spannend, aber schwer zu entschlüsseln und deutschsprachige Musik gab es entweder als belanglosen Schlager oder als politisch aufgeheizten Agitprop. Dagegen waren die Texte von Udo Lindenberg auf Ball Pompös eine herrlich unverkrampfte Mischung aus überdrehtem Spaß und coolen Sprüchen, aus Rockerträumen und Kinobildern, aus illusionslosen Drogenportraits und melancholischen Beziehungsgeschichten. Lindenberg hat es auf diesem Album geschafft, die deutsche Sprache ohne jede Peinlichkeit zu verwenden. Sie ist hier zum ersten Mal weich und biegsam und auf bis dahin unbekannt elegante Weise in die Musik integriert.
»Die Jungs vom Syndikat sind enorm professionell.«
Udo Lindenberg, Johnny Controletti
Die Musik schlägt über den von Gottfried Böttger immer wieder angeschlagenen Boogie-Woogie-Zitaten einen großen Bogen von 20er Jahre A-Capella Ständchen, über Tango- und Hartrockrhythmen bis hin zu verzerrten Gitarren und elektronischen Soundeffekten. Großes Kino, bei dem man keine Untertitel benötigte.
In der Schule, im Chemiesaal, mixte er sein Teufelszeug Riskante Spiele, die er spielte, Er schnüffelte Juhu und Klebolin, bis er schielte!
Udo Lindenberg, Riskante Spiele
Vor und nach dem Vinylrausch wurde klar, dass es für die in den Siebzigern aufgewachsene Generation nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder man kennt und schätzt das Album bis heute, oder man hat sich Ball Pompös damals aus Furcht vor dem vermeintlichen ›Schlagerfuzzi‹ Lindenberg verweigert. Dass es bei der Begeisterung für Ball Pompös keine Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland gab, zeigte die Erzählung eines Stammhörers, der es im Osten geschafft hat, mit Hilfe einzelner Songaufnahmen aus dem Radio das ganze Album zusammenzustellen – und damit in seinem Freundeskreis zum Helden wurde.
Jedesmal, wenn man mich abtörnt Werd’ ich völlig panisch Dann ist mein Zustand sofort katastrophal Dann renne ich in die nächste Kneipe und besaufe mich total
Udo Lindenberg, Bitte keine Love Story
Deutsche Stimme mit internationalem Erfolg
Vor diesem mit Applaus bedachten Album des Monats hat die erste Seite von Atlantis gezeigt, dass Anfang der Siebzigerjahre deutsche Bands auch international Aufsehen erregen konnten. Der Progressiv Bluesrock von Atlantis und die raue, eindringliche Stimme von Inga Rumpf passen perfekt zusammen. Die Songs sind intelligent arrangiert und überraschen mit unerwarteten Übergängen und Taktwechseln, wogegen die englischsprachigen Texte mit ihren einfachen Botschaften manchmal etwas zu ambitioniert klingen. Inga Rumpf hat mit Udo Lindenberg als Schlagzeuger bei den City Preachers und Atlantis zusammen gespielt. Auf Ball Pompös war sie dann die Rockerbraut, die Otto Walkes mit großer Geste auf seine Moto Guzzi reduzieren konnte.
Ein nüchterner Blick auf die Wirklichkeit
Ball Pompös hat den Weg für die deutsche Sprache in der Neuen Deutschen Welle geöffnet. Während die von uns schon gehörten The Wirtschaftwunder ihren absurden Humor aus der Konfrontation eines italienischsprechenden Gastarbeiter-Kindes mit der deutschen Sprache zog, haben Max Goldt und Gerd Pasemann als Foyer Des Arts die bundesrepublikanische Wirklichkeit mit ironischen Portraits seziert. Die verblüffend spannende Musik schwankt zwischen gradlinigen, textunterstützenden Rhythmen und komplexen musikalischen Arrangements. Trotz der provokanten Düsternis von Komm in den Garten ist mit der ersten Seite von Von Büllerbü Nach Babylon ein fröhlicher und begeistert aufgenommener deutscher Rausch zu Ende gegangen.
Weltschmerz bei Ambros, ekstatische Lebensfreude bei Bilderbuch und melancholische Verzweiflung bei Culk.
1975
Wolfgang Ambros – Es lebe der Zentralfriedhof
Es lebe der Zentralfriedhof hat den VR #74 mit einer überraschenden Mischung aus Folk-Rock, orchestralem Pop, Walzerzitaten und melancholisch-lebensfrohen Texten eröffnet.
2015
Bilderbuch – Schick Schock
Schick Schock hat uns beim recht düsteren VR #74 mit einer herzerfrischend lässigen Mischung aus Elektrofunk, Hip-Hop und harten Rockriffs und vielen brillanten musikalischen Ideen überzeugt.
2023
Culk – Generation Maximum
Generation Maximum hat beim VR #74 für Diskussionen gesorgt. Eine schonungslose, ernst und düster scheinende Selbstbetrachtung der Generation Z voller brodelnder Energie.
Ein intensiver Vinylrausch mit männlichen Blicken aus weiblicher Perspektive und rumpelnden Klängen von zwei eigenwilligen Stimmen.
1975
Joni Mitchell – The Hissing of Summer Lawns
The Hissing of Summer Lawns ist ein reiches Werk, das uns beim intensiven VR #73 mit dem männlichen Blick auf Frauen in den Siebzigern konfrontiert hat.
Rain Dogs ist voller dichter Songs über Aussenseiter und verlorene Seelen – beim VR #73 haben wir das längste und eines der vielseitigsten Alben gehört.
Ein Rausch, in den wir uns hineinfallen lassen konnten: über dreißig Jahre Musikgeschichte, von Rhythmusschleifen getragen ...
1972
Can – Ege Bamyasi
Auf Ege Bamyasi haben Can zu ihrem Sound gefunden: lange, repetitive Improvisationen auf Seite A, Hits und herausfordernde Experimente auf der B Seite. Gehört beim puren VR #72
1985
The Fall – This Nation’s Saving Grace
This Nation’s Saving Grace steckt voller Überraschungen und ist gleichzeitig von ständig wiederholten Rhythmus-Patterns geprägt. Ein kraftvolles Erlebnis beim VR #72
2005
Tocotronic – Pure Vernunft darf niemals siegen
Pure Vernunft darf niemals siegen hat mit lakonischen Texten und der hypnotischen Qualität zweier verzerrte Gitarren endlich die Hamburger Schule zum VR #72 gebracht.