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Ein emotionales Finale: Pearl Jam, Wipers und The Who beim VR #57

Der letzte Vinylrausch vor der Sommerpause war etwas Besonderes. Das lag zum einen natürlich an dem Team vom Arte Journal, die nachmittags schon ein Interview für einen kurzen Bericht über den Vinylrausch gedreht haben – und dann tapfer bis zur letzten Note durchhielten. Entscheidender aber war die Musik, diesmal ungewöhnlich kraftvoll, schnell und dramatisch. Schon bei der Vorbereitung hat mich mal wieder die Erdigkeit und emotionale Kraft der Songs von Pearl Jam umgehauen. Sie haben es besonders in ihren Live Konzerten geschafft, die Power und Gradlinigkeit, die Sensibilität und Verletzlichkeit der Rockmusik durch die letzten dreißig Jahre zu retten.

Teenage Wasteland

Begonnen haben wir den Abend natürlich mit The Who, einem wichtigen Referenzpunkt für Pearl Jam. Musikalisch knüpfen sie an die Energie der Who in den Sechzigern an, thematisch geht es in den Songs von Pete Townsend und Eddie Vedder häufig um persönliche Themen, um ihre Rolle als Rockstar, Idol und Sprachrohr einer Generation. Und sogar die Bühnenshows eskalierten auf vergleichbare Weise: während Townsend in den Sechzigern gerne seine Gitarre zerstörte, nutzte Vedder Anfang der Neunziger immer mal wieder den Mikrofonständer, um ein Loch in den Bühnenboden zu schlagen…

Who’s Next beginnt mit einem Song, den auch Pearl Jam bisher 170 Mal live gespielt haben: Baba O’Riley schlägt mit der Inspirationsquelle Terry Riley einen Bogen zum minimalen Vinylrausch #55 und spielt im Titel ausserdem auf Mea Baba, den spirituellen Lehrer von Pete Townsend an. Im ersten Song ging es damit schon um ein bestimmendes Thema des Abends: die Überforderung der Rockstars durch Ansprüche und Wünsche, die von Fans und Plattenfirmen auf sie projiziert werden. Ein Problem, das die Rockmusik spätestens seit Dylans denkwürdigen Interviewauftritten in 1965/66 begleitet.

The Who’s Next war als Konzeptalbum geplant und enthält auf der A-Seite einige typische Who-Songs , die getragen sind von dem Kontrast zwischen ›schönen‹ Melodien, hoher Stimme, harten Riffs und überraschenden (Drum-)Rhythmen.

»They better confess, they started this mess…«

Gegen immer aufgeblasenere musikalische Konzepte/mediale Vermarktungskonzepte und die monumentale Einfältigkeit des Stadionrocks rebellierten Ende der Siebziger die amerikanischen Punks. Greg Sage als Gründer und Kopf der Wipers nutzte dessen anarchische Kraft, um sie mit gradlinigem Hard Rock und fantasievoll verzerrten psychedelischen Gitarrensounds zu mischen.

Auf Is This Real? dreht sich alles um postpubertäre Frustrationen, die allgemeine Konfusion des Lebens und letztlich um das Alleinsein. An der Realität (ver)zweifelt ein verzagter Marktverweigerer, der gerne fünfzehn Alben in zehn Jahren veröffentlicht hätte – ohne Plattenfirma, ohne Marketing und ohne Liveauftritte. Gut, dass sich Greg Sage von diesem Plan hat abbringen lassen. So konnte dieser harte und laute, aber voller herrlich vertrackter Melodien steckende Sound aus dem Umfeld von Seattle zu einer der lokalen Wurzeln des Grunge werden.

Beim Vinylrausch haben wir die rohe Energie gespürt, die die Musik trotz der Neuaufnahme im Studio unverbraucht rüberbringt – Sage hätte seine eigene 4-Spur-Aufnahme bevorzugt. Aus dem Publikum kam dazu der Hinweis, dass man sich tatsächlich wie in einem Live-Konzert gefühlt habe – perfekt!

Gequälte Seelen miteinander verbinden

»Troubled souls unite
We got ourselves tonight
C’mon …«

Pearl Jam, Leash

Emotional wurde es mit Vs. von Pearl Jam, dem Album des Monats beim Vinylrausch #57. Für deren Fans gelten sie schon lange eine der letzten großen Rockbands, die Hardrock und Funk aus den Sechzigern über die große Erneuerung durch den Punk mit dem letzten wirkmächtigen Aufbruch der Rockmusik, dem Grunge der Neunziger, verbunden haben.

Eddie Vedder verkörpert als Sänger und Texter der Band und als gefeierter Held einer neuen Generation von Rockmusik-Fans zu Anfang der Neunzigerjahre das ewige Drama der Rock-Helden: Den Kampf zwischen eigenem Ego und den Forderungen und Zuschreibungen durch Presse und Fans haben vor ihm schon Bob Dylan, Pete Townsend oder eben Greg Sage gefochten.

Auf Vs. erzählen mehrere der Songs von falschen Erwartungen, unerfüllbaren Forderungen und ganz grundsätzlich der Weigerung der Band, sich von Fans und Plattenlabel vereinnahmen zu lassen. Von beiden Seiten waren die Erwartungen nach dem überwältigenden Erfolg ihres Debüts Alive groß. Die Aufnahmen zu Vs. wurden darum zu einer Zerreißprobe für die Band, mit dem sie den Spagat zwischen der in der kleinen Seattler Szene geborenen Glaubwürdigkeit und den an sie gestellten Erwartungen als Aushängeschild des Grunge gerecht werden wollten.

Den Aufnahmen hört man die Wut und die in der Band aufgestaute Kraft an. Die Songs wurden jeweils komplett aufgenommen, einer nach dem anderen, zusammen im Studio. Das war ungewöhnlich in einer Zeit, in der Studioarbeit schon als Aufeinanderschichten von einzelnen musikalischen Layern verstanden wurde. Der Sound von Vs. bekommt dadurch einen packenden Live-Charakter, der von dem Reprint des Albums von 2013 druckvoll und facettenreiche herüberkam.

Vs. ist, angefangen von dem bissigen Go als erstem Song der A-Seite bis zu der bewegenden Ballade Indifference, ein mitunter hartes und funkiges, mitunter ruhiges und folkiges und damit also ausgesprochen facettenreiches Meisterwerk, das nicht nur 30 Jahre nach seinem Erscheinen das Auflegen und wiederentdecken wert ist.

Vinylrausch #57
1. The Who – Who’s Next (1971)
2. Pearl Jam – Vs. (1993)
3. Wipers – Is This Real? (1980)
4. Vinylrausch #57 – Weltschmerz, Depression und Aufbruch aus Seattle
5. Ein emotionales Finale: Pearl Jam, Wipers und The Who beim VR #57

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