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Die monotone Rückschau – Vinylrausch #55

Banner Vinylrausch Roxy-ZitatEin aufregender Abend, der den Vinylrausch #54 thematisch weitergeführt hat:

Die berührende bis verstörende musikalische Motorik von Steve Reichs Komposition für Streichquartett ‘Different Trains’ hat den Abend eröffnet. Obwohl es sich um eine spätere Komposition aus den 1980er Jahren handelt, sind hier viele Elemente des in den Sechzigerjahren entstandenen musikalischen Minimalismus zu hören: ständige Motivwiederholungen, kaum oder nur sehr untergründige musikalische Entwicklung, eben »Musik als allmählicher Prozess« – so der Titel eines programmatischen Essays von Steve Reich.

Im Publikum gab es, neben dem aus Bielefeld zu einem Vinyl-Wochenende angereisten Geburtstagskind Michael, etliche Steve Reich-Fans, aber auch Stimmen, denen die dissonant-drückende Stimmung des zweiten Teils ‘Europe – During The War‘ zu düster war. Reich hat diese Spannung aber – dann doch wieder in gelernter Kompositonstradition – im dritten Teil in einen eher luftigen Ausblick in die Zukunft nach dem Krieg aufgelöst.

Die erst im Januar erschienene 45rpm-Pressung einer Neueinspielung durch das amerikanische Mivos-Quartett war auf jeden Fall ein beeindruckendes Sounderlebnis, das uns hervorragend auf die langen und dichten Soundschleifen in der Musik der beiden Rockmusikalben des Abends vorbereitet hat.

»… but you blew my mind.«

Ankündigung Vinylrausch #55 Reich-Roxy-SonicYouthFor Your Pleasure muss man im Grunde nicht mehr vorstellen: Dieser Meilenstein der Rockmusik hat mit seinen pulsierenden musikalischen Flächen die Ideen minimalistischer Komponisten wie Steve Reich auf kongeniale Weise in die Rockmusik übertragen. Scheinbar statisch rollen die endlos wiederholten rhythmischen Figuren vor sich hin, angetrieben und durchbrochen von dem erdigen Schlagzeug von Paul Thompson. Besonders deutlich zu spüren in ‘Do the Strand’, ‘In Every Dream Home a Heartache’, ‘The Bogus Man‘ oder dem Titelstück ‘For Your Pleasure’ mit dem eindrucksvollen Tara-Lamento.

Von den fünf Musikern kamen vier von einer englischen Art School, einer Institution, deren Einfluss auf die Geschichte der Rockmusik garnicht überschätzt werden kann. Junge Leute konnten sich kostenlos einschreiben und ausprobieren: Bryan Ferry brachte von dort die Pop Art-Einflüsse durch seinen Lehrer Richard Hamilton mit, Andy Mackay und Brian Eno konnten mit automatischer Musikerzeugung, Synthesizern und Kompositionstechniken experimentieren.

Roxy Music haben vor fünfzig Jahren elektronische Klangexperimente mit dem Rückgriff auf vielfältige Stile der Rockmusik verbunden und damit die in Retro-Wellen gefangene Musik des 21. Jahrhunderts vorweggenommen. Mehr zur Bedeutung von Roxy Music und ihrem ersten Album kann man im Vinylrausch Musikmagazin nachlesen!

»Ich will nicht, ich glaube es nicht …« Sonic Youth, Cool Thing

Nach einer kurzen Pause wurde es dann mit dem Sonic Youth Album Goo richtig lebendig in der Sputnik-Bar, denn es gab viele persönliche Geschichten zu dieser Band. Das reichte von Erinnerungen an den ersten Kuss, über das erste Sonic Youth Konzert überhaupt in Berlin, das tatsächlich im Sputnik-Kino stattfand, aber im ersten Sputnik, das damals im Wedding zu finden war. Lutz berichtet von einer taz-Kartenverlosung, an der 1990 nur drei Leute teilgenommen hatten, und die ihm in Halle ein Doppelkonzert mit Nirvana als Vorband und Sonic Youth als Hauptband bescherte.

Die Erwartungen waren also hoch – und das Album hat sie mehr als eingelöst. Von Thurston Moore und Lee Ranaldo gibt es über den ›Post-Minimalisten‹ Glenn Branca, in dessen Band beide Ende mitspielten, eine musikalische Verbindung zu Steve Reich und Philip Glass, die von Branca sehr geschätzt wurden.

Die Experimente Brancas mit ungewöhnlich gestimmten elektrischen Gitarren haben den Sound von Sonic Youth nachhaltig beeinflusst. In dem 1980 von Branca veröffentlichten Stück ’Lesson No. 1 for Electric Guitar’ ist all das zu hören, was Sonic Youth auch auf Goo mitreissend zelebrieren: rhythmische Gitarrenschleifen, verzerrte Sounds mit vielen Obertönen und die Konzentration auf wenige Akkorde und noch weniger Akkordwechsel:

Wir hatten beim Vinylrausch #55 einen kunstvollen und rockigen Abend, der angemessen laut – und sogar mit einigem Headbanging zu Ende gegangen ist.

»If I could give you anything, I would give you a kick …«

Vinylrausch #55
1. Steve Reich (Mivos Quartet) – The String Quartets (2023)
2. Sonic Youth – Goo (1990)
3. Roxy Music – For Your Pleasure (1973)
4. Die monotone Rückschau – Vinylrausch #55

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