Ich bleibe dabei und stehe dazu: auch wenn der populäre Rausch #57 teils hart an der Popularität als natürlicher Grenze des Vinylrausch entlang schrammte, bot der Abend einnehmend intensive und bereichernde Hörerlebnisse.
Nicht, dass sich jemand beschwert hätte, aber leichte Skepsis war doch aus einigen Kommentaren zu hören. Den Verdacht des Mainstream hat z. B. Edie Brickell nicht gänzlich abschütteln können. Das mag an dem vielleicht etwas zu gefällig dahinplätschernden ‘Little Miss S.‘ gelegen haben, oder an dem arg repititven ‘The Wheel‘. Aber selbst diese Songs sind gute Popmusik mit einer pfiffigen Songidee, schönem Refrain und perfekt passender Melodielinie. Dazu kommt die charakteristische und trotzdem wandelbare Stimme von Edie Brickell und die vielen, so garnicht langweilig werdenden Soundideen ihrer Band: die prägnante Wah-Wah-Funkgitarre im Hit ‘What I Am‘, die filigranen Jazztupfer und elektronischen Soundeffekte in dem berührenden ‘Air Of December‘ oder das sensible Schlagzeugspiel in ‘The Wheel‘. Popmusik also, die alles andere als einfach ist und einige der jüngeren Zuhörer sogar zum Mitschwingen gebracht hat.
Everything is temporär anyway….
Edie Brickell, Shooting Rubberbands in the Stars, Circle
Einhellig beeindruckt wurde Debut von Björk aufgenommen. Dabei ist auch dieses Album von den populären Musikströmungen seiner Zeit geprägt worden. Björk war Anfang der Neunzigerjahre in der Londoner Clubszene unterwegs und hat diese dynamische und tanzbare Musik mit ihren persönlichen Vorlieben kombiniert. Die Songs haben sie zumeist schon eine ganze Weile begleitet, bis dahin aber nicht so recht zu den (Punk-)Bands gepasst, in denen sie auch als Frontfrau nur ein Teil der Band war. Der Titel Debut ist jetzt wörtlich zu nehmen: Björk konnte auf diesem Album ihre vielfältigen musikalischen Vorlieben ausleben und neben Techno, Trip-Hop oder Disco-Elementen auch eine Schnulze aus einem amerikanischen Melodram der Vierzigerjahre singen. Dass das ganze nicht auseinandergefallen, sondern eine auch heute noch verblüffende Melange geworden ist, verdankt sie Produzent Nellee Hooper, der bereits mit den Smashing Pumpkins, Shinead O‘Connor oder Soul II Soul gearbeitet hat. Dazu kam Talvin Singh als ›Musical Director‹, der für die Bollywood-Einflüsse und das in Indien aufgenommene Streichorchester verantwortlich war.
Wir haben diese teils wilde, teils tanzbare, teils emotionale Mischung als Originalpressung von ‘93 geniessen können, dank an Stephan und Jürgen!
Das aktuelle Album von Youn Sun Nah war für viele eine Überraschung, in der man die Vergangenheit der Sängerin mithören konnte. Die Südkoreanerin hat in Paris Jazz studiert und bisher viele Coversongs auf ihren Alben gesungen. Zum ersten Mal sind nun auf ‘Waking World‘ alle Stücke von ihr allein geschrieben worden. Die Themen reichen von Beobachtungen der Musikszene bis hin zu sehr persönlichen Bekenntnissen. Musikalisch ist das Album deutlich am Jazz orientiert und man hört die Anfänge der Sängerin, die vor ihrer Ausbildung in Paris Musicals gesungen hat, in der dramatischen Konstruktion der Songs immer wieder durch.
Ein durch und durch weiblicher Abend also, mit vielschichtiger und abwechslungsreicher Musik, von dem nicht nur einige der neuen Zuhörer begeistert schienen.
Weltschmerz bei Ambros, ekstatische Lebensfreude bei Bilderbuch und melancholische Verzweiflung bei Culk.
1975
Wolfgang Ambros – Es lebe der Zentralfriedhof
Es lebe der Zentralfriedhof hat den VR #74 mit einer überraschenden Mischung aus Folk-Rock, orchestralem Pop, Walzerzitaten und melancholisch-lebensfrohen Texten eröffnet.
2015
Bilderbuch – Schick Schock
Schick Schock hat uns beim recht düsteren VR #74 mit einer herzerfrischend lässigen Mischung aus Elektrofunk, Hip-Hop und harten Rockriffs und vielen brillanten musikalischen Ideen überzeugt.
2023
Culk – Generation Maximum
Generation Maximum hat beim VR #74 für Diskussionen gesorgt. Eine schonungslose, ernst und düster scheinende Selbstbetrachtung der Generation Z voller brodelnder Energie.
Ein intensiver Vinylrausch mit männlichen Blicken aus weiblicher Perspektive und rumpelnden Klängen von zwei eigenwilligen Stimmen.
1975
Joni Mitchell – The Hissing of Summer Lawns
The Hissing of Summer Lawns ist ein reiches Werk, das uns beim intensiven VR #73 mit dem männlichen Blick auf Frauen in den Siebzigern konfrontiert hat.
Rain Dogs ist voller dichter Songs über Aussenseiter und verlorene Seelen – beim VR #73 haben wir das längste und eines der vielseitigsten Alben gehört.
Ein Rausch, in den wir uns hineinfallen lassen konnten: über dreißig Jahre Musikgeschichte, von Rhythmusschleifen getragen ...
1972
Can – Ege Bamyasi
Auf Ege Bamyasi haben Can zu ihrem Sound gefunden: lange, repetitive Improvisationen auf Seite A, Hits und herausfordernde Experimente auf der B Seite. Gehört beim puren VR #72
1985
The Fall – This Nation’s Saving Grace
This Nation’s Saving Grace steckt voller Überraschungen und ist gleichzeitig von ständig wiederholten Rhythmus-Patterns geprägt. Ein kraftvolles Erlebnis beim VR #72
2005
Tocotronic – Pure Vernunft darf niemals siegen
Pure Vernunft darf niemals siegen hat mit lakonischen Texten und der hypnotischen Qualität zweier verzerrte Gitarren endlich die Hamburger Schule zum VR #72 gebracht.
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